Beispiel einer Migrationszelle für einseitigen Lebensmittelkontakt.

Beispiel einer Migrationszelle für einseitigen Lebensmittelkontakt. (Bild: Intertek)

Die beiden ersten Beiträge führten in die Regularien ein und beschrieben die theoretische Seite der Risikobewertung für verschiedene Lebensmittelkontaktmaterialien. Der praktische Ansatz folgt im Prinzip immer dem gleichen Schema:
1) Prüfen der vorhandenen Information auf Einsatzbedingungen und anzuwendende Beschränkungen
2) Erstellen eines Testprogramms, basierend auf der Information aus Punkt 1 und den generell zu bestimmenden Parametern, wie Sensorik, Gesamtmigration und Non Intentional Added Substances (NIAS)
3) Durchführung des sensorischen Tests
4) Bestimmung der Gesamtmigration
5) Ermitteln der spezifischen Migration(en)
6) Testen auf weitere Substanzen, die für eine vollständige Risikobewertung sinnvoll erscheinen
Die abschließende Bewertung erfolgt auf Basis der Migrationsdaten und der Expositionsabschätzung für den entsprechenden Einsatzzweck.

Prüfen der Informationen vom Lieferanten und Erstellen eines Testprogramms

Die Kommunikation in der Wertschöpfungskette nimmt eine zentrale Rolle bei der Ermittlung der Konformität von Lebensmittelbedarfsgegenständen ein: Mit der Konformitätsbestätigung gibt der Lieferant alle relevanten Informationen an seinen Kunden weiter, damit dieser im Stande ist, eine Risikobewertung durchzuführen. Diese auch DOC (Declaration of Compliance) genannte Bestätigung enthält Informationen zur Übereinstimmung mit der Rahmenrichtlinie und über die Listung der eingesetzten Substanzen in den entsprechenden Umsetzungsregularien. Substanzen mit zugeordnetem spezifischem Migrationslimit (SML) werden genannt, auf entsprechende Regularien beziehungsweise das anzuwendende Limit wird verwiesen.

Das Testprogramm ergibt sich dann aus den Informationen vom Lieferanten und den spezifischen Bedingungen der Anwendung, sofern diese bekannt sind. Sind die Bedingungen der Endanwendung nicht bekannt, kann unter „worse-case“-Bedingungen getestet werden, um alle Möglichkeiten abzudecken.

Sensorischer Test

Artikel 3 Abs. 1 c) der EU Rahmenverordnung 1935/2004 fordert, dass das Lebensmittel durch das Verpackungsmaterial sensorisch – das heißt geruchlich und geschmacklich – nicht beeinträchtigt werden darf. Das bedeutet in der Praxis, dass ein Nichteinhalten nur dieses Parameters direkt eine Nicht-Verkehrsfähigkeit des Lebensmittelkontaktmaterials zur Folge hat, selbst wenn alle durchgeführten chemischen Migrationsprüfungen die rechtlichen Grenzwerte einhalten. Ein Mineralwasser in einer Kunststoffflasche darf daher nicht nach Kunststoff riechen oder schmecken, auch wenn das für den Verbraucher nicht zwangsläufig eine Gesundheitsgefährdung nach sich ziehen muss. Streng rechtlich gesehen, darf die Kunststoffflasche selbst nach Kunststoff riechen, solange dieser Geruch nicht auf das Lebensmittel übergeht.

Die Durchführung der sensorischen Prüfung im Labor ist im Grunde genommen eine Migrationsprüfung. Hier gilt – wie bei der Globalmigration oder den spezifischen Migrationen auch –, dass der tatsächliche Gebrauch (Zeit/Temperatur des Lebensmittels im Kontakt mit dem Lebensmittelkontaktmaterial) darüber entscheidet, wie die sensorische Prüfung durchzuführen ist. Es ist daher entscheidend für die Prüfung, welche Arten von Lebensmitteln der Verpackungshersteller verpacken möchte. Handelt es sich beispielsweise um eine Schokoladenverpackung, sollte die sensorische Prüfung auch mit Schokolade erfolgen. Für das Prüflabor bedeutet das, eine möglichst neutral schmeckende (das heißt ohne zusätzliche Aromen, Nüsse, etc.) Schokolade in das zu prüfende Verpackungsmaterial einzuwickeln. Bei der Auswahl der Prüfbedingungen orientiert man sich meist an den Migrationsbedingungen der Kunststoff-Verordnung, sodass für die Simulation des Langzeitkontakts üblicherweise zehn Tage „migriert“ wird. Die Schokolade verbleibt für zehn Tage im Verpackungsmaterial und wird anschließend sensorisch gegen eine Blindprobe (gleich behandelte Schokolade ohne Kontakt mit dem zu prüfenden Material) verkostet. Hierbei ist zu beachten, dass für Schokolade nicht die für die üblichen Migrationsprüfungen anzuwendenden 40° C oder 60°C verwendet werden können, da Schokolade unter diesen Bedingungen schlichtweg schmilzt. In dem Fall wird die Simulation des Langzeitkontakts somit für zehn Tage bei Raumtemperatur vorgenommen.

Es gibt keine rechtliche Vorgabe hinsichtlich der anzuwendenden Norm zur Durchführung der Sensorik-Prüfung, um die Konformität gemäß Art. 3 Abs. 1 c) VO(EG)1935/2004 zu gewährleisten. In der Praxis finden hauptsächlich drei Normen Anwendung:

a) Die „§64-Methode“: Die einfache beschreibende Prüfung nach der amtlichen Methodensammlung § 64 LFGB L 00.90-6. Hierbei wird, wie oben beschrieben, der direkte Lebensmittelkontakt simuliert. In der täglichen Labor-Routine werden hierbei circa zwei bis drei geschulte Prüfer eingesetzt, sowie bei Auffälligkeiten gegebenenfalls weitere Prüfer hinzugezogen.
b) DIN 10955: Diese Norm ist sehr umfangreich und beschreibt weniger, wie die Prüfung exakt auszusehen hat, sondern vielmehr, welche verschiedenen Prüfmöglichkeiten es gibt (einfach beschreibende Prüfung, Dreiecksprüfung etc.) und gibt Vorschläge/Anhaltspunkte, welche Simulanzien und Prüfbedingungen für verschiedene Produktgruppen sinnvoll erscheinen. Das heißt, auch bei dieser Norm wird der direkte Lebensmittelkontakt simuliert. Es gibt jedoch verschiedene Arten der Durchführung der sensorischen Verkostung an sich. Eine wichtige Forderung der DIN 10955 ist, dass mindestens sechs geschulte Prüfer die Prüfung durchführen müssen.
c) DIN EN 1230-1 + -2: auch bekannt unter dem Namen „Robinson-Test“. Entgegen der landläufigen Meinung ist diese Norm nur für Verpackungsmaterialien aus Papier/Pappe anwendbar. Die Prüfbedingungen sind vorgegeben. Wichtigster Unterschied ist, dass das zu prüfende Material nicht in direktem Kontakt mit dem Prüflebensmittel steht. Es wird der Übergang von geruchlich und geschmacklich aktiven Substanzen aus dem Verpackungsmaterial in das Prüflebensmittel über die Gasphase betrachtet. Definierte Luftfeuchtigkeiten bei der praktischen Durchführung erzielen zudem eine – im Vergleich zur Realität – beschleunigte Prüfung.

Schematische Darstellung der Migration.
Schematische Darstellung der Migration.

Alle genannten Normen erfordern die Prüfung durch geschultes Personal. In der Laborpraxis bedeutet dies, dass regelmäßig an entsprechenden externen und internen Ringversuchen teilgenommen werden muss, um die Eignung des Sensorik-Panels für diese Art Prüfung sicherzustellen und zu kontrollieren. Zudem prüfen solche Prüfer im Routinebetrieb cirka fünf Proben pro Tag (> 1.000 Prüfungen pro Jahr). Sie verfügen daher über die Jahre über beträchtliche Erfahrung hinsichtlich der Qualität verschiedener Materialien und des gegenwärtigen Standes der Technik (vgl.  Gute Herstellungspraxis!), was sie diesbezüglich zu leisten im Stande ist.

Die Bewertung der sensorischen Abweichungen des Prüflebensmittels im Vergleich zu der Blindprobe erfolgt nach der in der DIN 10955 genannten, folgenden Bewertungsskala. Ab einer Bewertungsstufe von 2 (= geringe Abweichung) ist die Abweichung vom Prüfer genauer zu beschreiben. Ab einer Bewertungsstufe von 3 (= deutliche Abweichung) erfolgt eine Beanstandung nach Art. 3 Abs. 1 c) VO(EG)1935/2004. Für die finale Bewertung wird der Mittelwert der Ergebnisse der einzelnen Prüfer herangezogen, um die Wahrnehmung der Prüfer zu objektivieren.  Bewertungsskala: 0 = keine Abweichung, neutral; 1 = sehr geringe Abweichung, kaum wahrnehmbar; 2 = geringe Abweichung; 3 = deutliche Abweichung; 4 = starke Abweichung. Anforderung: keine deutliche Abweichung (Bewertungsstufe ≤ 2,5)

Ermitteln der Migrationen durch praktisches Testen

Das Ergebnis des Globalmigrationstests ermöglicht eine Aussage über die Menge nichtflüchtiger Stoffe, die unter den angewendeten Prüfbedingungen auf ein Lebensmittel beziehungsweise Lebensmittelsimulanz übergehen können. Es ist ein Maß für die Inertheit des Materials in Sinne der Rahmen-Verordnung. Das Limit beträgt zehn mg/dm² Kontaktfläche mit dem Lebensmittel, bei Materialien im Kontakt mit Säuglings- und Kleinkindnahrung  60 mg/kg Lebensmittel (= 60 ppm).

Spezifische Migration

Aus der DOC oder der Rezeptur ergeben sich die Substanzen, für die ein spezifisches Migrationslimit anzuwenden ist.

Die Testbedingungen, wie zum Beispiel Temperatur und Zeitdauer des Tests, hängen dabei von den tatsächlichen Bedingungen bei der Anwendung ab. Entsprechende Tabellen in den Regularien geben die Bedingungen für die Anwendungsszenarien detailliert wieder.

Die passenden Lebensmittel-Simulanzien ergeben sich ebenfalls aus der Anwendung und sind zum Beispiel für Kunststoffe den Tabellen in der Kunststoff-Verordnung EU 10/2011 Annex V zu entnehmen.

Non Intentional Added Substances (NIAS)

Substanzen, die nicht bewusst zugefügt wurden und auch nicht als Reaktionsprodukt entstehen sollten (NIAS), aber trotzdem im Endprodukt vorhanden sind, müssen ebenfalls einer Risikobewertung unterzogen werden.

Folgende Quellen sind denkbar:

  • Verunreinigungen von Ausgangssubstanzen
  • Nebenprodukte von Polymerisationsreaktionen
  • Abbauprodukte von eingesetzten Substanzen

Zur Erfassung der NIAS sollte ein Screening-Test durchgeführt und dann die nachgewiesenen Substanzen einer Risikobewertung unterzogen werden. Bei der Risikobewertung ist die tatsächliche Exposition zu berücksichtigen, die sich aus den entsprechenden Migrationen der Substanzen und der Häufigkeit der Verwendung des jeweiligen Materials ergibt. Der analytische Aufwand ist abhängig vom Material, der Anwendung und der tatsächlichen täglichen Exposition mit dem Material. Sinnvolle Hilfe zur Expositionsabschätzung bieten entsprechende Expositionsmodelle. Die finale Risikobewertung sollte durch einen Experten erfolgen.

Zusammenfassung

Die Kommunikation in der Wertschöpfungskette nimmt eine zentrale Rolle bei der Ermittlung der Konformität von Lebensmittelbedarfsgegenständen ein: Mit der Konformitätsbestätigung gibt der Lieferant alle relevanten Informationen an seinen Kunden weiter, damit dieser im Stande ist, eine Risikobewertung durchzuführen.
Die Kommunikation in der Wertschöpfungskette nimmt eine zentrale Rolle bei der Ermittlung der Konformität von Lebensmittelbedarfsgegenständen ein: Mit der Konformitätsbestätigung gibt der Lieferant alle relevanten Informationen an seinen Kunden weiter, damit dieser im Stande ist, eine Risikobewertung durchzuführen. (Bild: Fotolia)

Die praktischen Tests liefern einen wichtigen Beitrag zur Risikobewertung, da der Übergang von Stoffen von einem bestimmten Material in das Lebensmittel sensorisch und analytisch bestimmt wird und somit die Grundlage für die Einhaltung von Grenzwerten darstellt. Die Bewertung von nicht absichtlich hinzugefügten aber vorhandenen Substanzen rundet die Bewertung des Risikos ab. Prinzipiell ist ein Schritt für Schritt-Vorgehen sinnvoll, da ein Nicht-Bestehen eines Tests zu der Einstufung als nicht verkehrsfähig führt und somit weitere Tests keinen Sinn machen. Werden jedoch alle Tests bestanden und die abschließende Risikobewertung fällt positiv aus, kann das Material als für den Lebensmittelkontakt geeignet eingestuft werden.

 

Teil 3

Sensorik und Migration
Dieser Beitrag ist der dritte einer Serie von vier Artikeln zur Sicherheit von Lebensmittelkontaktmaterialien. Er beschreibt die praktische Seite der Risikobewertung – das Testing: Sensorik und Migration.
Teil 1: Grundinformationen & Gesetze zu Lebensmittelkontaktmaterialien (erschienen in neue verpackung 12/2015)
Teil 2: Material-Aspekte bei der Konformität von Lebensmittelkontaktmaterialien (neue verpackung 1/2016)
Teil 3: Sensorik und Migration (aktuelle Ausgabe)

 

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