Der Fachkräftemangel ist in den letzten Jahren in immer mehr Regionen und Branchen Realität geworden. Dazu ist 2024 in Deutschland ein Jahr der wirtschaftlichen Eintrübung mit deutlichen Auswirkungen auf das Einstellungsverhalten der Unternehmen. Betriebe können seit Langem deutlich weniger Fachkräften einstellen, als sie benötigen würden, da sie einerseits auf dem Arbeitsmarkt keine passenden Mitarbeiter finden und andererseits ihr Einstellungsverhalten rezessionsbedingt auf Stellenprofile fokussieren, die das eigene Unternehmen zukunftsfest machen.
Die Kombination aus Fachkräftemangel und wirtschaftlicher Eintrübung hat zwei Auswirkungen: Erstens befassen sich Unternehmen nun mehr mit der Restrukturierung der eigenen Organisation, um unbesetzte Stellen aus dem vorhanden Mitarbeiterpool zu besetzen und zweitens versuchen Unternehmen ihre Einstellungsentscheidungen verstärkt unter maximaler Sicherheit zu treffen.
Dazu stellen sie sich viele der folgenden Fragen nochmals deutlich intensiver, als dies in den Vorjahren der Fall war:
- Ist die (Neu-/Ersatz-) Besetzung wirklich notwendig?
- Wenn ja, erfüllt der Kandidat fachlich und persönlich die wichtigsten Anforderungskriterien?
- Passen die Wertevorstellungen des Kandidaten langfristig zu denen des Unternehmens?
Arbeitgeber haben einen deutlichen Vorteil, wenn sie die individuellen Potenziale ihrer eigenen und die der potenziellen Mitarbeiter kennen. Bei Einstellungsentscheidungen und der Frage der zielgerichteten Personalentwicklung bestehender Mitarbeiter wird die Potenzialbewertung des Kandidaten daher zunehmend wichtiger.
Diagnostik vs. Bauchgefühl
Die Potenzialanalyse ist ein HR-Instrument aus dem Bereich der Eignungsdiagnostik, das als Teil des Recruiting-Prozesses bei Kandidaten sowie zur Standortbestimmung bei Mitarbeitern des Unternehmens eingesetzt wird – beziehungsweise eingesetzt werden sollte. Dieser Zusatz ist nach unserer Wahrnehmung von großer Bedeutung, weil wir in unserer täglichen Arbeit mit Kunden aus dem Mittelstand erleben, dass Instrumente der Eignungsdiagnostik nur spärlich genutzt werden und sich die Verantwortlichen in vielen Fällen lieber auf das eigene Bauchgefühl als auf die wissenschaftlich fundierte Diagnostik verlassen.
Das muss nicht zwingend zu Fehlentscheidungen führen, eine eignungsdiagnostische Einschätzung ist aus unserer Sicht aber dennoch ratsam, um (teure) Fehler bei Einstellungsentscheidungen zu vermeiden.
Dieser Artikel befasst sich mit dem Nutzen von Potenzialanalysen aus Unternehmenssicht und soll das Bewusstsein schärfen sich dieser Instrumente stärker als in der Vergangenheit anzunehmen. Der Beitrag geht dabei auf die besonderen Vorteile für deren Einsatz bei Mitarbeiterbindung und Personalentwicklung aber auch der Rekrutierung neuer Mitarbeiter ein. Es sollen unter anderem die folgenden Fragen beleuchtet werden:
- Führen regelmäßige Potenzialanalysen zu einem effizienteren Talentmanagement?
- Sinkt durch dieses Angebot die Fluktuationsrate bei Mitarbeitern?
- Verbessert sich dadurch die Passgenauigkeit von Kandidaten für spezifische Rollen?
Zu guter Letzt wollen wir auch kurz beleuchten, welchen Anforderungen die Potenzialanalyse beziehungsweise die Eignungsdiagnostik genügen sollte, um wirkliche Aussagekraft zu entfalten.
Passen die Wertevorstellungen des Kandidaten langfristig zu denen des Unternehmens?
Talente mit Potenzialanalyse entdecken
Die Potenzialanalyse ist eine erfolgreiche Methode, um herauszufinden, welche Talente in einem Menschen schlummern. Wer bin ich? Was kann ich? Wo will ich hin? Fragen, auf die man oft keine eigenen Antworten hat, da Selbstreflexion viel Überwindung kostet und häufig von den Unternehmen auch nicht eingefordert oder honoriert wird. Oder man kennt die Antworten, möchte sich diese aber nicht eingestehen – wer will schon „schwach“ wirken in einer Zeit, in der man an allen Ecken und Enden in Social Media nur von erfolgreichen Menschen und echten High Performern liest. Oder es fehlt ein Spiegel, der einem die blinden Flecken des eigenen Selbst vor Augen führt. Das Potenzial eines Mitarbeiters ist mehr als die Summe seiner Fähigkeiten.
In der Realität machen wir Tag für Tag unsere Arbeit mit mehr oder weniger Routine. Häufig wissen Unternehmen oder Vorgesetzte gar nicht, welche Talente in ihren Mitarbeitern darüber hinaus noch verborgen liegen. Und zwar Talente und Potenziale, die zum weiteren Unternehmenserfolg beitragen können. Die Potenzialanalyse gibt den teilnehmenden Mitarbeitern und dem Unternehmen Auskunft über deren Kompetenzen (Methoden-, Sozial-, Fachkompetenz, die Fähigkeit zur Reflexion und die Fähigkeit, mit Veränderungen umgehen zu können) und Potenziale. Sie basiert auf einer Momentaufnahme des Teilnehmers und zeigt, worauf sein aktueller Fokus ausgerichtet ist, das heißt wird der Mitarbeiter den aktuellen Anforderungen gerecht. Die Analyse – und darin liegt ihre Stärke – reflektiert zusätzlich das Entwicklungspotenzial des Mitarbeiters, das in ihm steckt.
So kann die Analyse Antworten darauf geben, ob sich der Mitarbeiter eher in einer Führungsrolle entfaltet oder eine Fachlaufbahn geeigneter ist. Sie gibt Auskunft über sein Lernpotenzial und Hinweise zu Herausforderungen, bei denen ein Mitarbeiter über sich hinauswächst. Im Klartext: Welche Aufgaben und wie viel Verantwortung kann man dem Mitarbeiter übertragen, damit er noch erfolgreich ist beziehungsweise erfolgreicher wird? Wird vor der Potenzialanalyse ein bestimmtes Anforderungsprofil definiert, sind die Testergebnisse gezielt mit diesem Idealprofil vergleichbar. In beiden Fällen gilt – Definition des Anforderungsprofils und Auswertung der Potenzialanalyse sollten dem gleichen Muster und der gleichen Herangehensweise folgen, um echte Aussagekraft entwickeln zu können. Darüber hinaus können Mitarbeiter mit „Erfolgsprofilen“, das heißt mit Profilen von nachweislich erfolgreichen Führungskräften in dem Unternehmen oder mit Spezialisten verglichen werden.
Ein Beispiel aus der Praxis: Sie wollen in ihrem Unternehmen einen neuen Produktionsbereich aufbauen. Dazu suchen Sie aus den eigenen Reihen den Manager, der als Teamleiter anfängt und später in die Rolle des Bereichs- oder Abteilungsleiters hineinwächst. Wer gut im Aufbau eines Bereichs ist, muss aber nicht unbedingt geeignet sein, diesen später zu leiten. Die Potenzialanalyse der internen Kandidaten zeigt ihnen, wer das Zeug für beides hat. Sie zeigt ihnen, wer überambitioniert oder überhaupt nicht für den Job geeignet ist. Und die Analyse macht Unterforderung und Überforderung deutlich und kann deshalb gut zur Personalbindung eingesetzt werden. Zu guter Letzt zeigt die Analyse auch in welchen Bereichen einzelne Mitarbeiter einen konkreten Lern- und Weiterbildungsbedarf haben.
Das Wissen um die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter kann für den weiteren Unternehmenserfolg strategisch genutzt werden und führt zu einem effizienten und bedarfsorientierten Talent-Management. Mitarbeiter durchlaufen eine vom Unternehmen unterstützte Entwicklung, um an wichtige Aufgaben herangeführt zu werden. Sie werden unterstützt, gefördert, gefordert und weitergebildet. Das motiviert langfristig und bindet Talente an das Unternehmen. Auch der Unternehmenserfolg wird in Hinblick auf die wesentlichen personellen Ressourcen abgesichert. Doch die Gründe zu bleiben sind ähnlich wie die Gründe, um zu gehen.
Es ist daher wichtig, dass sich alle der Begrenztheit von Potenzialanalysen bewusst sind.
Potenzialanalysen beim Recruiting
Gemäß einer Langzeitstudie des Meinungsforschungsinstituts Forsa (Befragung 01/23) im Auftrag von Onlyfy by Xing denken 37 % der Erwerbstätigen in Deutschland über einen Jobwechsel nach. Das sind 4 Prozentpunkte mehr als im Jahr 2021 und – trotz schwierigerer wirtschaftlicher Lage zu Jahresbeginn – ein ähnlich hoher Wert wie 2022. In der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen ist die Wechselbereitschaft am höchsten. Hier wäre jede zweite Person zu einer Veränderung bereit. Und ein Grund für die Fluktuation ist ein Gehaltssprung bedingt durch besser Entwicklungsmöglichkeiten in einem neuen Unternehmen. Daher gilt für 2024: Potenziale der wechselbereiten Kandidaten erkennen – Entwicklungsperspektiven in Abhängigkeit von Unternehmensressourcen aufzeigen – Kandidaten begeistern und binden – und zwar nach fundierten Potenzialanalysen.
Kommen wir nochmal zu dem Beispiel zurück, bei dem Sie einen neuen Produktionsbereich aufbauen wollen und einen Abteilungsleiter suchen. Sie entscheiden sich für Neueinstellung und sichten die eingehenden Bewerbungen. Im Verlauf des Einstellungsprozesses erhalten Sie Informationen aus Lebensläufen und mehreren Interviews. Aber reichen diese Informationen immer aus, wenn Sie den Kandidaten länger im Unternehmen behalten und fördern wollen? Jemand mit Talent bleibt nur, wenn es auch ansprechende Entwicklungsmöglichkeiten gibt. Deren Nutzung und deren Nutzen hängt aber davon ab, welches Potenzial eine Person mitbringt.
Hier unterstützt Sie die Potenzialanalyse, denn Sie benötigen ein schnelles abgrenzbares Bild des Kandidaten, ausgerichtet auf die eigenen Stellenprofile und den Arbeitsplatz. Sie finden Antworten auf die Fragen, wie innovationsfähig jemand ist. Oder wie kompetent jemand diverse Teams führt.
Wie wissenschaftlich sind Potenzialanalysen?
Potenzialanalysen wie der Meyers-Briggs Typenindikator (MBTI) oder das aus der Wirtschaftspsychologie kommende DISC-Modell, das eine Selbsteinschätzung über Fragebögen voraussetzt und auf den Grundtypen Dominant – Initiativ – Stetig – Gewissenhaft beruht, ermöglichen Einblicke in Persönlichkeitspräferenzen, Kommunikationsstile und Verhaltensmuster.
Umstritten ist aber die wissenschaftliche Gültigkeit und Nützlichkeit von Persönlichkeitstests, einschließlich MBTI und DISC in der psychologischen Fachgemeinschaft. Unternehmen sollten daher sorgfältig abwägen, wie sie diese Instrumente einsetzen und interpretieren.
So neigen diese Tests dazu, die Komplexität menschlicher Persönlichkeiten zu vereinfachen, indem sie Individuen in starre Typen/ Kategorien einordnen. Solche Vereinfachungen erfassen jedoch die Vielfalt menschlicher Eigenschaften nicht vollständig. Auch können Beurteilungskategorien zu breit und nicht spezifisch genug sein, um individuelle Persönlichkeitsunterschiede adäquat zu messen.
Es ist daher wichtig, dass Unternehmen, Mitarbeiter beziehungsweise Kandidaten sich der Begrenztheit von Potenzialanalysen bewusst sind und die Ergebnisse als einen von mehreren Faktoren in den Entscheidungsprozessen verwenden.
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