rollwagen mit Pharma-Vials

Die Rollwagen sind mit fast 10.000 Vials beladen. (Bild: Goldfuß Engenieering)

Wenig im Blick der Öffentlichkeit, aber sehr wichtig bei der Impfstoffproduktion ist der Aufbau einer leistungsfähigen Produktion und Logistik. Bei diesem Case mussten innerhalb kürzester Zeit sehr große Kapazitäten aufgebaut werden, um schnell viel Impfstoff gegen ein weltweit auftretendes Virus herstellen zu können. Daher war eine Automatisierung unumgänglich.

Ein Prozessschritt sieht vor, dass mit Impfstoff gefüllte Vials, auch als Stechampullen bezeichnet, von einem Förderband mittels Roboter in Schubladen abgelegt und später wieder entnommen werden. Das Unternehmen Goldfuß Engineering entwickelte das Gesamtkonzept, das aus mehreren Rollwagen mit Schubladen, Roboterzellen und Bandanlagen besteht. Simon IBV war verantwortlich für die Entwicklung des optischen 3D-Systems, das es dem Roboter ermöglicht, die Vials eigenständig und beschädigungsfrei zu greifen. Dabei kommt die industrielle Bildverarbeitungssoftware Mvtex Halcon zum Einsatz. Die Rollwagen, die etwa 10.000 Stechampullen fassen, dienen als Puffer- und Transfersystem zwischen Abfüllung, Qualitätskontrolle und Verpackung.

Das Unternehmen Goldfuß Engineering aus dem baden-württembergischen Balingen ist auf die Entwicklung und Fertigung robotergestützter Beschickungssysteme für Verpackungsmaschinen und Anwenderlösungen für die Laborautomation spezialisiert. Das Unternehmen wurde von Siegfried Hameln, einem weltweit tätigen Auftrags- und Entwicklungsfertiger von pharmazeutischen Wirkstoffen und Fertigprodukten beauftragt, einen automatisierten Prozess zum Puffern der Vials zu entwickeln. Für die Vision-Komponente der Roboterzelle wurde Simon IBV GmbH ins Boot geholt. Das Unternehmen aus dem nordbayerischen Bayreuth verfügt über Expertise bei optischen Prüf- und Mess-Systemen in 2D und 3D.

Kontroll-Bildschrim
Darstellung der im Rollwagen vorgefundenen Vials im Frontend. (Bild: Goldfuß Engineering)

Für den Schritt des Be- und Entladens der Rollwagen hat die Goldfuß eine neue Roboterzelle entwickelt.  Vertriebsleiter Stephan Trunk: „Eine solche Automatisierungslösung gab es bislang nicht auf dem Markt. In vergleichbaren Anwendungen werden die Vials nach der Abfüllung manuell in Trays oder Boxen geladen, händisch auf Paletten oder in Kanbanwagen gestapelt und anschließend wieder depalettiert. Dadurch werden in der Regel mehrere Mitarbeiter an nicht wertschöpfende Tätigkeiten gebunden. Der neue, automatisierte Prozess sorgt für eine Beschleunigung, auch weil sich die Mitarbeiter anspruchsvolleren Tätigkeiten widmen können.“

Die eingesetzten Rollwagen verfügen über neun Schubladen, wobei jede Schublade mit 24 Reihen und jeweils 46 Vials befüllt werden kann. Insgesamt finden auf einem Rollwagen also knapp 10.000 Vials Platz. Durch das Puffern einer solch großen Menge kann die Auslastung der Verpackungsanlage flexibel gesteuert werden. Die Wagen bieten den zusätzlichen Vorteil, dass aus ihnen einfach Stichproben entnommen und nach der Qualitätssicherungsfreigabe dem Verpackungsprozess wieder zugeführt werden können. Da die Wagen fahrbar sind, können sie in Kühlkammern geparkt werden, sodass die Kühlkette nicht unterbrochen wird. Die besondere Herausforderung bei der Umsetzung lag in den Abweichungen bzw. den unterschiedlichen Positionen, in denen etwa die Rollwagen positioniert werden und die Roboter dennoch autonom arbeiten müssen. Die Wagen werden händisch von den Mitarbeitern an der Anlage abgestellt, wodurch die exakte Position immer variiert. Zudem ändert sich das Gewicht der Rollwagen und somit die Position der Schubladen beim Be- und Entladen permanent. Um die nötige Positionsgenauigkeit einzuhalten, damit die Vials immer korrekt gegriffen werden, muss die genaue Lage für jede Reihe stets neu ermittelt werden.

Einsatz industrieller Bildverarbeitung

Diese Aufgabe kann in einer nahezu vollständig automatisierten Produktion nur von einem 3D Vision-System auf Basis industrieller Bildverarbeitung bewältigt werden. Andere Technologien hätten die Anforderungen nicht erfüllen können. Der Einsatz von Sensoren erfordert mehrere Abtast-Positionen, was den Roboterzyklus erheblich verlängert hätte und somit die angestrebte Taktzahl nicht erreicht werden könnte. Auch der Einsatz einer 2D-Kamera am Greifer wäre problematisch, da neben dem zusätzlichen Gewicht auch empfindliche Kabel so verlegt werden müssten, dass sie den Bewegungen des Roboters langfristig standhalten.

„Die 3D-Kameras mit einem Arbeitsabstand von ca. 120 cm zur obersten Schublade und 180 cm zur untersten Schublade arbeiten immer noch hochgenau und bieten dem Roboter trotzdem einen ausreichenden Arbeitsbereich für ein kollisionsfreies Handling. In Kombination mit leistungsstarker Machine-Vision-Software können aber alle Anforderungen für diese Anwendung gemeistert werden“, erklärt Daniel Simon, Prokurist und verantwortlich für den Technischen Vertrieb bei der Simon IBV.

Roboter
Das Vision System der Roboterzelle ist so angebracht, dass auf dem Greifer des Roboter keine Kamera angebracht werden muss und dieser somit in der Lage ist, bis zu 46 Vials zu greifen. (Bild: Goldfuß Engineering)

Durchgehend automatisierten Prozess

 

Die Hardwarekomponenten der Roboterzelle umfassen neben dem Roboter hochauflösende 3D-Kameras im Stereometrie-Verfahren mit Musterprojektion und Industrie-Rechnertechnik mit schnellen Prozessoren zur PC-basierten Auswertung. Für die industrielle Bildverarbeitung wurde Mvtec Halcon ausgewählt. Halcon ist die Standardsoftware für die industrielle Bildverarbeitung. Sie verfügt einerseits über eine Vielzahl verschiedener leistungsfähiger Bildverarbeitungsmethoden und andererseits flexibel einsetzbar, etwa mit unterschiedlichen Kameras, da sie hardwareunabhängig ist. Als User-Interface zur Visualisierung und zur einfachen Bedienung der Anlage kommt die Softwarelösung Simavis von Simon zum Einsatz.

Der Prozess sieht so aus, dass zunächst ein Rollwagen von einem Mitarbeiter in eine von zwei möglichen Positionen eingeschoben wird. Eine 3D-Kamera innerhalb der Roboterzelle lokalisiert den Rollwagen und prüft den Zustand der Schubladen, also ob die Schubläden offen oder geschlossen sind. In der speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) ist hinterlegt, ob der gerade zu bearbeitende Rollwagen be- oder entladen werden soll, welche Schublade geöffnet werden soll und wo sich bereits wie viele Vials befinden. Zunächst nimmt die 3D-Kamera immer ein Bild der zu öffnenden Schublade auf. Mvtec Halcon erstellt daraus ein Koordinatensystem und teilt dieses mit dem Roboter. So kann der Roboter die Schublade öffnen.

Gefragt: hohe Präzision

Im nächsten Schritt nimmt die 3D Kamera ein Bild des Inhalts der Schublade auf. Damit wird ermittelt, wie viele Vials eingelagert sind und wo genau sie sich befinden. Neben der Anzahl wird auch auf Fehler geprüft, etwa ob einzelne Ampullen hochstehen, umgekippt sind und somit nicht vom Roboter gegriffen werden können. Der Greifer des Roboters ist so ausgerüstet, dass er jeweils 46 Vials gleichzeitig greifen kann. Nachdem eine Schublade vollständig entladen wurde, ermittelt die 3D-Kamera wieder die Position des Schubladengriffs, sodass der Roboter diese wieder schließen kann. Dieser Vorgang wird nun mit den restlichen acht Schubladen wiederholt, solange bis der Wagen komplett entladen ist.

Rollwagen
Die Rollwagen werden in den Arbeitsbereich der Roboter geschoben. Ab dann läuft der Prozess autonom. (Bild: Goldfuß Engineering)

Bei den Herausforderungen stand an erster Stelle die hohe Präzision. Die Position der Vials muss mit einer Genauigkeit von 0,1 mm erkannt werden. Dazu kommt der nicht einfache Arbeitsraum von 800 x 600 mm sowie der Tiefe von 600 mm. Gesteigert wird diese Anforderung durch den äußerst wertvollen Inhalt der Vials. Diese dürfen keinesfalls Schaden nehmen. Dennoch muss das Be- und Entladen zügig erfolgen – auch um die schnelle Bereitstellung des Impfstoffs zu ermöglichen. „Es gab darüber hinaus zwei besondere Herausforderung an das Vision-System. Zum einen musste mit unterschiedlichen Materialien gearbeitet werden. Das Glas der Vials und das Metall, etwa das der Rollwagen, weisen durchsichtige beziehungsweise reflektierende Oberflächen auf und sind so nur schwer zu erkennen. Zum anderen funktioniert die Anlage nur, wenn die Roboter autonom im dreidimensionalen Raum arbeiten können. Dazu muss die Machine Vision Software aber auch über leistungsfähige 3D-Vision-Technologien verfügen. Es gibt nicht viele Machine-Vision-Softwareprodukte, die hier die notwendige Performance und Robustheit erreichen“, sagt Daniel Simon.

Diverse Machine-Vision-Technologien

„Aufgrund unserer langjährigen Erfahrung mit Halcon wussten wir, dass die Software über eine umfangreiche Bibliothek mit vielen äußerst leistungsstarken Methoden verfügt.“ Bei der entwickelten Roboterzelle kommen verschiedene Machine-Vision-Technologien zum Einsatz. Die technologische Voraussetzung in der Anlage ist die sogenannte Hand-Auge-Kalibrierung. Diese Technologie ist essenziell für jegliche Anwendung, bei der Kameras mit Robotern zusammenarbeiten. Dabei wird das Koordinatensystem des Roboters und das der Kamera synchronisiert. Dadurch kann die Bewegung des Roboters höchst präzise auf die Aufnahmen der Kamera abgestimmt werden.

Parallel dazu wird die 3D-Vision-Technologie „Stereo-Vision“, die auch in Halcon enthalten ist, eingesetzt. Diese Technologie ist für die 3D-Rekonstruktion konzipiert und besonders nützlich bei großen oder mittelgroßen, strukturierten Objekten. Des Weiteren ermöglicht diese Technologie die Qualitätskontrolle oder die Positionserkennung von dreidimensionalen Objekten. Außerdem berechnet die Technologie 3D-Koordinaten auf Objektoberflächen. Dies ist sowohl mit einer, aber auch mit mehreren Kameras möglich. Stereo-Vision ist besonders geeignet für die präzise Messung von Erhebungen. Ein Feature innerhalb der Technologie ist Mehrgitter-Stereo, eine fortschrittliche Methode, um die 3D-Daten in homogenen Bildteilen zu interpolieren. Diese Methode liefert größere Genauigkeit bei kleinen Objekten.

Seit Juli 2021 im Betrieb

„Wir haben es geschafft, innerhalb von nur einem halben Jahr eine völlig neue Roboterzelle zu entwickeln und prozessstabil zum Laufen zu bringen“, sagt Stephan Trunk nicht ohne Stolz. Die Anlage wurde im Juli 2021 in Betrieb genommen. Auch wurden die hohen Anforderungen, etwa an die Geschwindigkeit und Präzision, erreicht. „Dieses Projekt zeigt, welche Chancen und Möglichkeiten die industrielle Bildverarbeitung bietet. Aufgrund der erfolgreichen Umsetzung sind wir sehr motiviert, weitere anspruchsvolle Aufgaben zu automatisieren. Dazu laufen schon erfolgsversprechende Projekte mit Goldfuß Engineering“, sagt Daniel Simon.

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