Wie Unternehmen ihre Produktentwicklung transformieren
Wenn KI zum Co-Ingenieur wird
Generative KI verändert die Produktentwicklung grundlegend – vom ersten Konzept bis zum Serviceeinsatz. Am Beispiel der Verpackungsindustrie zeigt der Artikel, wie KI-Lösungen Prozesse beschleunigen, Anforderungen strukturieren und Nachhaltigkeit stärken. Praxisbeispiele verdeutlichen, wie Unternehmen schrittweise in das KI-gestützte Engineering einsteigen können.
Stellen Sie sich vor: Ein Ingenieur arbeitet an der Konstruktion einer neuen Verpackungsmaschine. Anstatt alle Designentscheidungen manuell zu treffen, nutzt er aber ein KI-gestütztes Assistenzsystem. Dieses analysiert frühzeitig, welche Gestaltungsoptionen technisch realisierbar sind, welche Materialien in der konkreten Anwendung besonders nachhaltig wären, und berechnet parallel den potenziellen CO₂-Fußabdruck. Auf Knopfdruck generiert die KI mehrere Entwurfsalternativen, schlägt passende Fertigungstechnologien vor und liefert begleitende Textbausteine für die Produktbeschreibung. Der Ingenieur bewertet, priorisiert und entscheidet – gemeinsam mit seinem KI-Co-Piloten.
Was heute noch visionär klingt, rückt durch die rasante Entwicklung künstlicher Intelligenz in greifbare Nähe. Insbesondere generative KI, also KI, die neue Inhalte wie Texte, Bilder, Code oder Designvorschläge erzeugen kann, verändert die Art und Weise, wie Produkte künftig entwickelt und zur Marktreife gebracht werden. Dabei geht es nicht nur um einzelne Optimierungen, sondern um eine grundlegende Neugestaltung von Arbeitsprozessen, weg von starren Entwicklungsschritten, hin zu agilen, datengetriebenen Innovationszyklen.
KI – Co-Innovator im Engineering
Zunächst lohnt sich ein genauerer Blick auf die Technologie selbst. Um zu verstehen, was mit KI derzeit – und künftig – möglich ist, ist es hilfreich, zwischen klassischen KI-Ansätzen und den neueren generativen Verfahren zu unterscheiden. In vielen Unternehmen sind klassische Ansätze bereits angekommen – etwa in Form von maschinellen Lernverfahren, die historische Daten analysieren und daraus Muster oder Zusammenhänge ableiten. Diese sogenannte diskriminative KI kommt zum Einsatz, um etwa Fehlerwahrscheinlichkeiten vorherzusagen, Qualitätsprobleme frühzeitig zu erkennen oder Wartungsbedarfe automatisiert zu identifizieren. Sie klassifiziert bestehende Informationen oder trifft Vorhersagen auf Basis von Trainingsdaten – ist also vor allem auf Analyse und Optimierung fokussiert.
Einen grundlegend neuen Ansatz verfolgt die generative KI. Sie geht über die reine Analyse hinaus und ist in der Lage, neue Inhalte selbstständig zu erzeugen. Heute lassen sich mit generativen Modellen Codezeilen schreiben, Produktideen visualisieren, Konstruktionen entwerfen oder sogar komplexe technische Anleitungen erstellen. Im Unterschied zur klassischen KI liegt der Fokus hier auf kreativer Problemlösung und inhaltlicher Neuschöpfung.
Ein zentrales Beispiel dafür sind sogenannte Large Language Models (LLMs) wie GPT, Claude oder Gemini. Diese Systeme wurden auf riesigen Datenmengen trainiert und verstehen natürliche Sprache so gut, dass sie Texte nicht nur analysieren, sondern selbstständig schreiben, umformulieren, strukturieren oder übersetzen können. In technischen Anwendungen können solche Modelle beispielsweise genutzt werden, um:
- Anforderungen in natürlicher Sprache in technische Systemmodelle zu überführen,
- Quellcode für Automatisierungslösungen zu generieren,
- Varianten von Bauteildesigns vorzuschlagen
- oder große Mengen technischer Dokumentation zu strukturieren und zu extrahieren.
Die große Stärke generativer KI liegt in ihrer Fähigkeit, menschliche Kreativität zu ergänzen. Sie wird damit zu einem echten Co-Innovator im Engineering: einem System, das Ideen vorschlägt, neue Denkansätze eröffnet und menschliche Entscheidungsträger in ihrer Arbeit unterstützt – statt sie zu ersetzen. Gerade in der frühen Phase der Produktentwicklung, wo kreative Entscheidungen gefragt sind, kann das enorme Vorteile bringen. Teams können schneller iterieren, mehr Alternativen prüfen und auch bislang implizites Wissen – etwa aus Foren oder Servicedaten – in strukturierter Form nutzen. Kurzum: Generative KI verändert nicht nur Werkzeuge, sondern auch die Rollen, Prozesse und Denkweisen im Engineering.
Von der Planung bis zu Wartung
Das Fraunhofer IEM beschäftigt sich in Forschungs- und Industrieprojekten mit dem Einsatz von generativer KI in der Produktentstehung – von der frühen Ideengenerierung bis hin zum Einsatz eines Produkts. Aus diesem Erfahrungsschatz schöpfen, sind im Folgenden einmal sechs Beispiele aus der Praxis beschrieben:
Produktplanung (1): Der Elektro- und Verbindungstechnikspezialist Wago wollte verstehen, welche Produkte bei Kunden und in der Fachcommunity besonders gut ankommen. Ziel war es, Trends, Pain Points und Innovationswünsche frühzeitig zu erkennen und in die Produktentwicklung einfließen zu lassen. Dazu entwickelte Wago einen datenbasierten Ansatz, um systematisch Community-Feedback aus Fachforen, Social Media und spezialisierten Deal-Seiten wie mydealz.de zu analysieren. Mit Clustering- und Segmentierungsverfahren wurden relevante Themen und Einflussfaktoren identifiziert.
So kann Wago seine Produktentwicklung gezielter auf Nutzerbedürfnisse ausrichten, schneller auf Missverständnisse reagieren und seine Innovationskraft steigern.
Anforderungsdefinition (2): Mit dem am Fraunhofer IEM entwickelten Tool Requirements GPT generieren Entwicklungsteams aus einer frei formulierten Produktidee automatisch strukturierte Anforderungen. Das System basiert auf einem Large Language Model und erstellt mithilfe spezifizierter Templates aus textlichen Beschreibungen konsistente, prüfbare und nachvollziehbare Anforderungsdokumente. Das Tool ermöglicht auch eine Konsistenzprüfung der Anforderungen sowie die Übersetzung von Kundenanforderungen in technische Spezifikationen – beispielsweise vom Lastenheft ins Pflichtenheft. Das spart nicht nur Zeit in der frühen Phase der Produktentwicklung, sondern erhöht auch die Qualität und Vollständigkeit der Anforderungen.
Systementwurf (3): Das Fraunhofer IEM hat einen KI-Assistenten für Model-Based Systems Engineering (MBSE) als Plug-in in das MBSE-Tool Cameo integriert. Durch die direkte Einbindung können Ingenieurinnen und Ingenieure mit der KI innerhalb ihrer gewohnten Tools interagieren und komplexe technische Inhalte sprachbasiert steuern. So erstellen sie auf Basis einer umgangssprachlichen Produktbeschreibung eine erste Systemarchitektur und erhalten intelligente Optimierungsvorschläge für bestehende Architekturen. Durch das Erstellen und Verknüpfen von Testfällen mit passenden Anforderungen unterstützt und teilautomatisiert das Plug-in zudem die Absicherung. Systemarchitekturen werden schneller entwickelt, verbessert und dokumentiert.
Konstruktion (4): Gemeinsam mit einem Produkthersteller hat das Fraunhofer IEM untersucht, wie der bislang stark manuell geprägte Konstruktionsprozess durch KI unterstützt und beschleunigt werden kann. Im Fokus stand die komplexe Entwicklung von Werkzeugen für die Fertigung von Bauteilen im Spritzgussverfahren. Dafür ist nicht nur CAD-Know-how, sondern auch viel Konstruktionserfahrung erforderlich. Im Projekt wurde ein KI-unterstützter Workflow konzipiert, der ausgehend von einem Bauteilmodell teilautomatisiert einen Vorschlag für die Werkzeugkonstruktion macht. Das Ergebnis: eine deutlich schnellere und konsistentere Werkzeugerstellung, geringere Konstruktionsaufwände und ein effizienterer Gesamtprozess im Werkzeugbau – bei gleichzeitigem Erhalt der individuellen Gestaltungsfreiheit.
Produktion (5): Generative KI ermöglicht neue Formen des Informationszugangs im Unternehmen. Statt Informationen über verschiedene Portale oder Dokumente zu suchen, erhalten Mitarbeitende Antworten direkt – dialogbasiert und intuitiv. In einem Projekt mit einem Industriepartner hat das Fraunhofer IEM einen Chatbot entwickelt, der im Intranet integriert ist und auf aktuelle Maschinendaten, Wartungsberichte und Produktionsnotizen zugreifen kann. Typische Fragen wie „Wie ist der Zustand von Linie 4?“ oder „Wie war die Verfügbarkeit der Verpackungsmaschine im letzten Monat?“ werden in Sekundenschnelle beantwortet – inklusive Kontext und Visualisierung. Der Chatbot läuft über den Webbrowser, ist einfach zu bedienen und entlastet die Mitarbeitenden. Künftig ist auch eine Sprachsteuerung im Shopfloor-Umfeld denkbar – für noch schnelleren Zugang zu entscheidungsrelevanten Informationen.
Service (6): Diebold Nixdorf, Anbieter von IT-Lösungen für Banken und Handel, wollte seine Servicekosten präziser kalkulieren. Häufig basierten Kostenschätzungen auf Annahmen oder Erfahrungswerten, was zu ungenauen Angeboten, Margenverlusten oder Wettbewerbsnachteilen führen konnte. Besonders problematisch war der fehlende Überblick über Ausfallraten und Reparaturkosten. Im Rahmen des Projekts „Product.Intelligence“ wurde ein datengetriebener Ansatz entwickelt, der historische Serviceeinsatz- und Nutzungsdaten systematisch erfasst, harmonisiert und auswertet. Ziel war es, Ausfallraten einzelner Bauteile präzise zu bestimmen und Ersatzteil- und Reparaturkosten transparent zu machen. Durch die faktenbasierte Ermittlung von Servicekosten kann Diebold Nixdorf heute die Preisfindung für Serviceverträge wesentlich präziser gestalten. Die Lösung minimiert Margenverluste, identifiziert gezielt Verbesserungspotenziale im Produktdesign, plant Wartungsstrategien, stärkt die Servicequalität und verbessert so insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit.
Schritt für Schritt einsteigen
Die Potenziale der KI sind erkannt, aber wie startet man? Bei vielen Unternehmen herrscht hier eine hohe Unsicherheit. Fehlendes Know-how, unklare Anwendungsfälle, mangelnde Datenqualität oder organisatorische Hürden stehen einem strukturierten Vorgehen im Weg. Daher orientiert sich das Fraunhofer IEM an einem übergeordneten Fahrplan: Zunächst geht es darum, Awareness für die Potenziale zu schaffen und ein klares Zielbild zu definieren. Es folgen Pilotprojekte, um den Nutzen von KI zu demonstrieren und Erfahrungen zu sammeln. Parallel werden Infrastruktur und Kompetenzen aufgebaut, bevor die Lösungen schließlich integriert und skaliert werden.
Die Erfahrung zeigt: Wer frühzeitig startet, sammelt wertvolles Erfahrungswissen und schafft sich strategische Vorteile. Unterstützungsangebote wie der Gen-AI Incubator oder das Leistungszentrum Engineering Automation bieten praxisnahe Einstiegspunkte, um Potenziale generativer KI zu erkunden, erste Ideen umzusetzen oder sich zu vernetzen.