Sebastian Finck dreht sich zur Seite und zeigt auf das Regal hinter ihm. Darin befinden sich etliche Verpackungen aus Karton, darunter Faltschachteln, aber auch Faltblätter, Einladungskarten und Versandmappen. Was all die auf den ersten Blick unauffälligen Produkte eint: Sie entstanden mit einem gehörigen Anteil an Gras. Denn die Papierfabrik Meldorf gehört zu den wenigen Herstellern von Graspapier und Graskarton. „Es gibt nach wie vor einige Mythen, wenn es um Graspapier geht“, sagt Verkaufsleiter Sebastian Finck, während er eine leicht grünbraun schimmernde Schachtel in seinen Händen hält. "Da heißt es immer wieder, Schachteln aus Graspapier seien nicht recycelbar. Tatsächlich geht auch Graspapier den normalen Weg durch den Recyclingkreislauf, wie auch Test der PTS belegen." Die Papierfabrik Meldorf stellt Graspapier nach ihrem eigenen patentierten Verfahren her und führt Graspapierabfälle und -kartonagen zurück in ihren Kreislauf. Daraus wird dann wieder neues Graspapier gefertigt. „Auch die Bedruckbarkeit wird immer wieder in Frage gestellt", so Finck. "Tatsächlich lässt sich das Graspapier in allen gängigen Druckverfahren veredeln. Ebenso werden die erforderlichen technologischen Werte erfüllt.“
Das allermeiste Material wird zu Wellpappe
Vor rund sechs Jahren hat man bei Meldorf mit der Produktion von grasfaserverstärktem Material begonnen, schon bald, nachdem die Firma an die Certina-Holding mit Sitz in München verkauft worden war. Damals war auch beschlossen worden, dass sich der Anbieter von Wellpappenrohpapier künftig auf Nischenmärkte fokussieren wird. Das hat sich mit Blick auf Graskarton nicht geändert. Gut 10 bis 20 % der Produktion betrifft alternative Fasern, heißt es auf Nachfrage. Das Allermeiste wird zu Wellpappe verarbeitet. Das Gros der Jahresproduktion in Höhe von rund 100.000 t betrifft Altpapier.
Der große Renner ist Papier und Karton aus Gras nicht. Obgleich der Rohstoff gegenüber Recycling- oder gar Frischfaserpapier eine Fülle von Vorteilen bietet: Er ist nachhaltig und umweltfreundlich, weil es aus einem schnell nachwachsenden Rohstoff besteht. Es wird im Vergleich zu Holzzellstoff weniger Wasser und Energie in der Produktion verbraucht. Da eine regionale Herstellung möglich ist, fallen lange Transportwege weg. Kurzum: Graspapier scheint eine vielversprechende und umweltgerechtere Alternative zu sein.
Probleme nicht nur bei der Steifigkeit
Trotz aller positiven Aspekte blieb der große Durchbruch bislang aus. Graspapier, das ist bis heute vor allem ein Nischenprodukt, „Designerware“ heißt es, bei der es mehr auf die Optik ankommt, denn auf die Funktionalität und den Preis. So formuliert es zumindest Sören Hadeler von der Bremer Gustav Schramm GmbH. „Wir haben anfangs das Thema Graskarton mit großem Interesse verfolgt“, erzählt der Geschäftsführer der Verpackungsfirma. „Es sah nach neuen ökologischen Möglichkeiten aus, auch wegen der beworbenen geringeren CO2-Belastung. Aber nachdem wir uns ausführlich mit der Thematik beschäftigt haben, ist es für uns auch ein Stück weit Augenwischerei. Selbst unseren stark ökologisch orientierten Bestandskunden empfehlen wir nicht unbedingt Graskartons.“
Hadeler nennt einige Gründe, die seine Argumentation stützen. So brauche es bei einem Anteil von 50 % Grasfasern meist die identische Menge an Frischfasern, um die gewünschte Steifigkeit zu erreichen. Das schlage sich negativ auf die CO2-Bilanz aus, gerade mit Blick auf das bei Schramm eigentlich überwiegend eingesetzte Altpapier. Das Familienunternehmen produziert in Deutschland. 80 % des Grundstoffs ist recyceltes Papier. „Da haben wir bereits eine super funktionierende Kreislaufwirtschaft“, so Hadeler.
Ähnlich die Kritik von Lasse Harder, CEO des Verpackungshändlers Packaging Warehouse. Dessen Meinung nach eignet sich der Einsatz von Graspapier prinzipiell für Etiketten, Faltschachteln aus Vollpappe sowie Versandkartons und -taschen aus Wellpappe. Aber er bemängelt gleichzeitig, dass Gras an sich durch die Faser kaum Stabilität mit sich bringt. Es seien daher fast immer Frischfasereinlagen nötig. Selbst bei Wellpappe ist daher meist nur die Außen- und Innendecke aus einem Anteil Gras.
Einer der größten Skeptiker ist, wenn es um Graspapier geht, Prof. Dr.-Ing. Jukka Valkama von der DHBW Karlsruhe. Ihn stört vor allem, dass bei Diskussionen rund um die Zellstoff-Alternative gerne Äpfel mit Birnen verglichen werden. Mit Blick auf Gras stellt er nüchtern fest: Es handle sich um Grasstücke, nicht um Fasern. Sie könnten als Ersatz für Füllstoffe wie Kreide oder Kaolin dienen, weil diese keine Festigkeiten, Steifigkeit oder andere Eigenschaften bringen, wie es eben die Fasern tun. „Wenn ich die dann mit Zellstoff vergleiche, dann sieht die Ökobilanz natürlich super aus“, so der Wissenschaftler. Aber es seien eben zwei Paar Stiefel. Gras findet er nur gut, wenn es in Produkten eingesetzt wird, die nicht in den Kreislauf kommen wie beispielsweise Hygieneprodukte.
Davon abgesehen sieht Harder die Eigenschaften von Graspapier gerade bei der Weiterverarbeitung nicht so rosig wie Sebastian Finck. „Die Materialien lassen sich häufig schwieriger bedrucken und verarbeiten“, sagt er. „Die Oberfläche ist nicht absolut glatt, was es schwieriger macht, Tinten und andere Druckfarben sauber aufzubringen. Poröse Grasoberflächen sorgen außerdem öfter zu kleineren Farbabplatzern.“ Zudem verändere sich durch die Materialfarbe die Optik der gewünschten Farben. Fakt ist: Graspapier ist hellbeige oder auch eher hellgrau – das mag nicht jeder und das passt auch nicht immer.
Das räumt auch Uwe D’Agnone ein. Seit vielen Jahren verfolgt der Industriekaufmann mit seiner Firma Creapaper das Thema Graspapier. Er kann quasi als Erfinder der Alternative zum klassischen Papier aus Holz gelten. Es brauchte viel Entwicklungszeit, um einen Rohstoff herzustellen, der auch entsprechend bearbeitet werden kann. Seit etwa fünf Jahren betreibt Creapaper in Düren eine Anlage, in der seine Graspellets hergestellt werden. Seit drei Jahren in einer Qualität, die es auch erlaubt, in den Papierfabriken dünnste Materialien wie Tissueprodukte, also Küchenrolle, Toilettenpapier, Servietten, herzustellen, sagt D‘Agnone.
Kein Thema bei den großen Papierfabriken
Seine Firma arbeitet mit Heu als Ausgangsmaterial, weil es ganzjährig verfügbar ist. Es wird mechanisch von Verunreinigungen wie Steinchen oder Hölzer gereinigt. Auf eine Nassreinigung mit anschließender Trocknung des getrockneten Heus wird wegen des großen energetischen Aufwands und des hohen Wasserverbrauchs verzichtet. „Wir ziehen alles, was leichter ist als Luft, mit Luft ab, der Rest wird über Vibrationsmechanik getrennt.“
Das vorgeschnittene Heut (max. 10 cm) wird in zwei Arbeitsgängen bis auf 0,5 mm Länge gekürzt und dann refined, um Bindungs- und Ankerpunkte zu haben. Zuletzt wird das Material zu Pellets gepresst. Damit verringert sich das Volumen um 20 %. Dann stehe einer Weiterverarbeitung im Pulper nichts mehr im Wege, sagt der Firmenchef.
Auch wenn D’Agnone beteuert, die Maschinen der Papierhersteller müssten nicht mehr angepasst werden, so ist Graspapier bei den großen Papierherstellern kein Thema. Beim Verband Die Papierindustrie nachgefragt, gibt es keine weiterführenden Angaben zu Graspapier, geschweige denn Zahlen zum produzierten Volumen oder zum Markt.
Das Interesse vor allem seitens integrierter Papierfabriken war lange gering. Weshalb? Vielleicht, weil dort wird selbst erzeugter Zellstoff zur Papierherstellung genutzt wird. Ein „Zulieferer“, dessen Rohmaterial vielleicht etwas aufwendiger zu handhaben ist, stört da eher. Aufgeschlossener waren nicht-integrierten Hersteller, heißt es, die oft Produkte aus dem grafischen Sektor herstellen. Wie Scheufelen. Die Traditionsfirma, die in schwieriges wirtschaftliches Fahrwasser geraten war, präsentierte 2017 Graspapier als Hoffnungsbringer und kündigte gleichzeitig an, ins Verpackungsgeschäft einzusteigen. Nur: Es gab nicht genügend Rohmaterial und die technischen Eigenschaften des „grünen“ Papiers genügten nicht.
Doch das ist Vergangenheit, betont der Creapaper-Chef. Mit Blick auf die Materialstruktur könne man heute alles anbieten: von Molded bis Tissue – bei unterschiedlichen Anteilen von Gras am Produkt. Wenn es um Virgin Blend geht, beträgt das Verhältnis Gras und Frischfaser 40 zu 60 %, sagt er. Bei Molded könne der Gras-Anteil bis zu 50 % betragen, bei Recydling-Papier entsprechend weniger, heißt es. Auf jeden Fall sei nahezu uneingeschränkte Recyclingfähigkeit gegeben. Das habe ein aktuelles Prüfverfahren der CEPI (Confederation of European Paper Industries) ergeben.
Es ist nicht so, dass Graspapier überhaupt nicht nachgefragt oder nur von einer Handvoll kleiner Unternehmen eingesetzt oder vertrieben wird. So wickelt McDonald’s Wraps in Graspapier ein. Der Rohstoff kommt von Creapaper. Auch einige Verpackungshersteller, darunter Mondi, sowie das Handelsunternehmen Otto standen oder stehen auf der Kundenliste von Creapaper. Hinzu kommen eine Reihe Druckereien, die Creapaper die Stange halten, darunter eben auch Die Grasdruckerei in Stuttgart.
Aber das reicht nicht, bestätigt Uwe D’Agnone. Der Preis ist noch zu hoch. Zwar seien vor Corona Endkunden bereit gewesen, mehr Geld für Produkte aus Graspapier auszugeben, aber das habe sich nachhaltig geändert, heißt es. Zudem: Der Preisdruck für die Papierfabriken ist enorm, auch dank gestiegener Energiekosten, und der Wunsch nach Standardisierung und hohen Volumina nur folgerichtig. Mit entsprechenden Konsequenzen für Creapaper. „Wir können mit unserem Rohstoff aktuell nicht die großen Maschinen versorgen“, so D’Agnone, die nötige Skalierbarkeit fehlt. Daher kann er auch beim Preis nur bedingt mithalten. Seine Grasfaser kostet die Hälfte von Frischfaser. Aber, so D’Agnone, „wir können deutlich günstiger sein als Virgin. Wenn wir einmal auf den entsprechenden Anlagen sind.“
Aktuell verarbeitet Creapaper in Düren pro Jahr 25.000 t Heu. Es stammt von bis dato nicht genutzten Grasflächen. In diesem Jahr kommt eine zweite, mobile Anlage für den Einsatz auf dem Feld mit einer Kapazität von 15.000 t dazu. Mit ihr will die Firma expandieren. Denn seit der Finanzierungsrunde im Herbst 2021 hat Creapaper mit Ranpak einen finanziell potenten, aber auch strategisch wichtigen Partner an der Seite. Das US-Unternehmen mit Sitz im Bundesstaat Ohio produziert und vertreibt weltweit Kartonagen und Füllungen und hat sich das Thema Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben. „Die Zusammenarbeit mit Creapaper wird unsere Mission vorantreiben, Plastikverpackungen durch nachhaltige Alternativen zu ersetzen, indem wir Ranpaks umweltfreundliche Lösungen und das Papier-Angebot für unseren wachsenden Kundenstamm erweitern“, so Omar Asali, Chairman und Chief Executive Officer von Ranpak, damals.
Die mobile Pelletsproduktion ist nicht einzige News in diesem Jahr. Seit kurzem hat Creapaper auch einen Leuchtturmkunden für sein siegelfähiges Papier. Der Namen wird allerdings nicht verraten. Auch könnten nun mit den Pellets ein Ersatz für Kraftliner hergestellt werden.
Vielleicht kommt die große Zeit von Graspapier erst noch. D’Agnone jedenfalls ist davon überzeugt. Der Unternehmer mit Sendungsbewusstsein hofft, dass es in einigen Jahren möglich ist, Graspapier aus 100 % Grasfasern zu produzieren. Und dass vielleicht einmal in jedem Papier ein gewisser Anteil Gras steckt – zum Wohle der Umwelt. Dass es dafür Unterstützer gleichermaßen aus der Wirtschaft, der Investorenseite und der Politik braucht, ist ihm bewusst.
Zumal im Markt viele unterschiedliche Zahlen zu Graspapier zu finden sind, die für reichlich Irritationen sorgen. So, wenn es um den Energie- und dem Wasserverbrauch oder um die CO2-Bilanz geht. Creapaper weist seinen Verbrauch schriftlich aus. Für die Herstellung von 1 t Gras-Pellets benötigt die Anlage 24,23 l Wasser und 166,42 kWh Energie. Auch die Präsentation von Smurfit Kappa aus dem Jahre 2020 mit einem Laborbericht findet sich nach wie vor im Netz und sorgt eher für Verwirrung. Darin kommt der börsennotierte Konzern zu dem Ergebnis: „Leider ist Graspapier, wie es heute im Markt erhältlich ist, nicht die Antwort!“, wenn es um Alternativen zum traditionellen Papier geht. Eine Neuauflage des wohl vier Jahre alten Prüfverfahrens gab es nicht. Vielleicht, weil es heute zu einem anderen Ergebnis käme?
Gleichwie. Bei der Papierfabrik Meldorf jedenfalls belässt man es nicht bei Graspapier als Zellstoff-Alternative. Relativ neu im Programm ist Papier mit Silphie-Fasern. Ganz neu auf der Agenda stehen Moosgräser. Sie seien in Verbindung mit Recyclingfasern ein geeigneter Rohstoff für nachhaltige Verpackungspapiere, heißt es.