Warum der größere Sustainability-Hebel in der Herstellung liegt

Produktion schlägt Auspuff

In vielen Fällen ist der Herstellungsprozess für die CO2-Bilanz eines Produktes, als ihr anschließender Lebenszyklus.
In vielen Fällen ist der Herstellungsprozess für die CO2-Bilanz eines Produktes, als ihr anschließender Lebenszyklus.

Die Debatte über die Umweltwirkung von Produkten orientierte sich lange an dem, was sichtbar ist: Antriebe, Verbrauchswerte, Reichweiten. Dieser Fokus hat geholfen, den Betrieb effizienter zu machen. Er verstellt aber zunehmend den Blick auf den größeren Hebel, die Herstellung.

In Presswerken, Lackierereien, SMT-Linien und Testständen entscheidet sich heute, ob ein Produkt mit einem tragfähigen CO₂-Profil in den Markt kommt. Wer die Fabrik als Datenraum versteht, verschiebt Nachhaltigkeit aus dem Berichtswesen in die operative Steuerung.

Was CO₂ wirklich treibt: Prozess statt Optik

CO₂ entsteht dort, wo Material und Prozess zusammentreffen. Energieintensität pro Takt, Auslastung, Ausschuss und Rework treiben den Herstellungs-PCF oft stärker als spätere Nutzungsprofile. Entscheidend ist daher nicht allein, was produziert wird, sondern wie. Sobald Fertigungsereignisse wie Energie, Takt und Nacharbeit konsistent mit Stücklisten, Materialdaten und Variantenlogik verknüpft werden, lässt sich CO₂ wie Qualität und Kosten führen. In der Praxis entstehen daraus pragmatische Steuergrößen: CO₂ pro Gutteil, Budgetwerte je Los, Freigaben entlang definierter Zielkorridore.

Drei Stellhebel im Werk sind:

  1. Energie pro Takt
  2. Material & Ausschuss
  3. Variantenlogik

Praxisbefund (anonymisierte Piloten, 8 bis 12 Wochen, Minimaldatensatz mit losnahem Digitalen Produktpass; DPP): CO₂ je Gutteil sinkt typischerweise um 8 bis 15 %, Rework um 15 bis 40 %; Peak-Lasten glätten sich messbar, Freigaben verkürzen sich von Wochen auf wenige Tage.

Die Grammatik der Dekarbonisierung

Die notwendige Infrastruktur ist unspektakulär und anspruchsvoll zugleich: eindeutige Identitäten für Teile und Materialien, klare Änderungsstände, nachvollziehbare Herkunft und Gültigkeiten. Ohne diese Grammatik bleibt Dekarbonisierung ein Excel-Marathon. Mit ihr wird sie zur Lifecycle-Automation: Daten aus der Lieferkette, Engineering und Produktion fließen regelbasiert zusammen und aktualisieren sich automatisch, wenn Varianten oder Prozesse sich ändern. So sinkt der manuelle Aufwand und typische Reibungen werden vermeidbar.

Kernbausteine sind hier:

  • Identitäten (Teile-/Material-IDs)
  • Versionen (Änderungsstände, Gültigkeit)
  • Provenance (Quelle, Signatur)

Der Digitale Produktpass: Datenspur der Herstellung

Richtig gedacht ist der DPP kein Dokument, sondern die Datenspur der Herstellung. Er ist serien- und losbezogen, mit Prozess- und Energie-Fingerprints ausgestattet, versioniert und signiert. Ein solcher, aus der Fertigung entwickelter DPP reduziert Nachweise, beschleunigt Freigaben und legt die Basis für Remanufacturing und Second-Life. Vor allem macht er „Transparenz“ prüfbar: Welche Stoffe sind verbaut? Woher kommen sie? Unter welchen Bedingungen wurden sie verarbeitet? Antworten liefern verknüpfte Datenobjekte – nicht PDFs.

In drei Schritten implementieren:

  1. Losbezug herstellen
  2. Fingerprints modellieren
  3. Versionierung & Signaturen verankern

KI als Verstärker, nicht als Zauberstab

KI wird dort sinnvoll, wo die Grundlagen stehen. Modelle für Qualität und Yield brauchen konsistente Ereignisdaten; Optimierungen von Lastgängen benötigen verlässliche Energieprofile entlang des Takts; generatives „Design-for-Impact“ hängt an PCF-Bausteinen, Materialdaten und Prozess-Fingerprints. KI ist dabei ein Verstärker guter Datenarbeit. Ohne Identitäten, Herkunft und Versionen beschleunigt sie nur Meinungen. Mit ihnen unterstützt sie auditierbare Entscheidungen.

Wesentlich ist: KI „ernährt“ sich nicht von selbst. Die Datenbasis entsteht in der Fabrik, pro Unternehmen mit seinen spezifischen Stücklisten, Varianten, Prozessen und Messpunkten – als lauffähige Infrastruktur aus Identitäten, Versionen, Provenance und losnahen Datenobjekten. Diese Basis lässt sich nicht zukaufen wie ein Modell; sie muss aufgebaut, betrieben und gepflegt werden. Wer jetzt damit beginnt, schafft den Vorteil, dass Modelle auf eigene, belastbare Datenspuren zugreifen und damit schneller, stabiler und überprüfbar wirken.

Branchenblick: Unterschiedliche Takte, gleicher Nenner

Ob Karosserie und Lack im Automotive oder Bestückung und Test in der Elektronik – die Technologien unterscheiden sich, der Nenner bleibt: die Verknüpfung von Produkt-, Lieferketten- und Fertigungsdaten bis auf Varianten- und Los-Ebene. Wer das beherrscht, integriert CO₂-Ziele in bestehende Freigabeprozesse, statt parallel neue Berichtsschleifen aufzubauen.

Gerade die Automobilindustrie steht unter hohem regulatorischem Druck (unter anderem CSRD, CSDDD, EU-Batterieverordnung); wer CO₂-, Stoff- und Fertigungsdaten im beschriebenen Sinn verknüpft und automatisiert, senkt Nachweis- und Umrüstkosten, beschleunigt Freigaben – und erzielt handfeste Wettbewerbsvorteile in Einkauf, Time-to-Market und Kapitalbindung.

Strukturwechsel statt Stimmungswechsel

Wer Fertigung als Datenraum begreift und Lifecycle-Automation etabliert, macht Dekarbonisierung steuerbar und schafft die Grundlage, auf der KI im industriellen Alltag mehr leistet als eine Demonstration. Das ist kein Stimmungswechsel, sondern ein Strukturwechsel: weg von Sichtbarkeitseffekten, hin zu prüfbaren Prozessen. Konsequent zu Ende gedacht heißt das: Jedes Unternehmen, das wirksam nachhaltig sein muss und will, etabliert eine zentrale Material- und Substanz-Intelligenz seiner Produkte entlang der Lieferkette (Impact-Intelligence-Plattform); gefüllt mit den hier skizzierten Bausteinen wird sie zur operativen Grundlage für Compliance und Nachhaltigkeit der gesamten Produktpalette – mit klarem Lieferkettenbezug.